Kapitel 51: Geht die Auszeit in die Verlängerung?

 

Links von mir klingt das „Halleluja“ etwas zu laut aus den Boxen, weiter rechts setzt der Straßenmusiker auf portugiesische Saudade. Mit Blick auf die „Ponte Dom Luís“ sitze ich in Porto in einem kleinen Café am Flussufer des Douro. Seit gestern bin ich in dieser zauberhaften Stadt im Norden Portugals. Porto steht weit oben auf der ansonsten eher kurzen Liste der Orte und Regionen, die ich unbedingt bereisen will. Der soeben georderte Café com Leite und der frisch gepresste Orangensaft schmecken sensationell, die Aussicht vor mir sieht aus wie aus der Postkarte geschnitten. Jede Menge Gründe also, um einfach glücklich zu sein. 

 

Portugal Porto Ponte Dom Luís I, Auszeit 50plus
Porto, eine Perle im Norden - hier der Blick auf die "Ponte Dom Luís"

 

Doch bei mir klopft gerade die Wehmut an: Halbzeit im Auszeit-Paradies. Zwischen tiefen Seufzern frage ich mich, wieso ich eigentlich jetzt schon wehmütig bin. Schließlich liegen noch rund acht Wochen vor mir. Doch Tatsache ist: Mein Zeitempfinden hat sich in den vergangenen Monaten komplett verschoben. Üblicherweise bin ich voller Entzücken, wenn ich zwei oder drei Wochen Urlaub mache. Jetzt hingegen kann ich den Gedanken nicht abschütteln: nur noch acht Wochen!

 

Eine Verlängerung meiner Auszeit, soviel weiß ich seit gestern von meinem Arbeitgeber, kommt nicht infrage. Meine Kollegin, die mich gerade vertritt, ist in dieser Zeit selbst im Urlaub. Jemand anderes ist für optionale vier Wochen nicht verfügbar. Die Klarheit habe ich selbst provoziert: Ich hatte bei meiner Chefin nachgefragt. Ich wollte wissen, ob sich der Gedanke über eine mögliche Verlängerung überhaupt lohnt. Dazu wären allerdings zwei Dinge notwendig: Jemand kann mich in dieser Zeit in meinem Job vertreten, und die Jungs-WG bleibt ebenfalls länger in meiner Wohnung und übernimmt die fällige Miete. 

 

Puzzle Puzzleteile Auszeit Portugal ü50
Das Puzzleteil passt nicht.

 

Ich hatte gehofft, mich träumerisch einer möglichen Nachspielzeit hingeben zu können, um nun festzustellen: Das Puzzleteil passt nicht. Thema abgehakt. Obwohl ich noch gar nicht sicher bin, ob ich überhaupt länger bleiben will, schockiert mich die Eindeutigkeit der Nachricht. Es ist nicht meine Entscheidung. Es gibt nichts zu verhandeln, die Antwort ist nein. Und ich fühle mich, als hätte mir jemand ein Spielzeug weggenommen, dass ich bislang zwar nur unschlüssig in der Hand gehalten hatte. Von dem ich aber auch nicht wirklich loslassen wollte.

 

Plötzlich heißt es also Halbzeit. Ein Gefühl, als hätte jemand die Sanduhr herumgedreht. Wenn jetzt der Sand durch ist, ist Schluss. Am liebsten würde ich die schmale Stelle zudrücken, als könnte ich so das Rieseln des Sandes und das Verrinnen der Zeit aufhalten. Denn ich gebe es gern zu: Ich bin verliebt in diese Zeit. Tun und lassen zu können, was ich gerade will, wann ich es will, wo ich es will. Wann geht das schon im „normalen“ Leben?

 

Porto Portugal Gasse in Porto, Auszeit 50plus
Und wie weiter?

 

Die Endlichkeit der Auszeit wird greifbar, und ich frage mich: Kann ich einfach so wieder zur Tagesordnung übergehen? Als wäre nichts gewesen? Als hätte ich nicht gespürt, dass mein Herz vor Freude tanzt? Als hätte ich nicht den Duft der Freiheit geatmet? Lässt sich dieses Gefühl ohne Weiteres wieder in die Truhe packen? Klappe zu. Schön war's, die Selbstverwirklichung auf Zeit. Alles in mir ruft, schreit „nein“! Aber wenn das nicht alles gewesen sein soll, was dann? Was bedeutet das konkret? Will, werde, kann ich zurückkehren mit einem konkreten Plan? Einem nicht „Weiter so, wie gewohnt“, sondern einem „Auf zu neuen Ufern“? Und wo ist das rettende Ufer für meine neue Freiheit? Wie soll ich das finden in gerade einmal acht Wochen?

 

Bislang hatte ich geglaubt, das ist nicht machbar, muss auch nicht sein. Es findet sich alles vermutlich am ehesten, wenn ich wieder zurück bin, irgendwann später. Ich habe nicht einmal mir selbst den Gedanken erlaubt, dass ich wiederkommen könnte und genau weiß, was zu tun ist. Nicht gleich die Kündigung auf den Tisch legen, aber eben auch nicht einfach wieder am Laptop Platz nehmen, als wäre ich nur kurz zum Mittag außer Haus gewesen.

 

 

Nun aber wird mir immer klarer: Wann, wenn nicht jetzt, konkret in meinem Kopf und Herzen, muss ich wissen, was ich will? Ich habe noch keine Ahnung, was es heißt, so einen Plan zu machen. Erstaunlicherweise genieße ich im Moment sogar dieses Nichtwissen. Der Verstand ist verblüfft angesichts meiner Gelassenheit. Er hofft wohl sowieso, dass sich der Wahnsinn über Nacht wieder legt. Oder spätestens, wenn mein Rucksack zu Hause in den großen Kleiderschrank wandern und nichts als eine sentimentale Erinnerung an eine großartige Zeit zurückbleiben würde.

 

Ich bin mir da ganz und gar nicht sicher. Doch bei aller Lust auf Veränderung erschreckt mich das Noch-Nicht-Wissen nicht mehr. Wenn etwas hier kontinuierlich wächst, dann ist es mein Vertrauen. Es nährt sich nicht aus Wissen oder Sicherheit, sondern aus dem Gefühl, dass das Leben für mich sorgt. Dass alles kommt, zur besten Zeit. 

 

Wenn ich es recht überlege, war es genauso schon fast in der gesamten Vorbereitungszeit. Nicht monatelang vorher planen, sondern spüren, wann die Zeit reif ist. Durchaus zu wissen, was zu entscheiden ist, aber sich mit der eigentlichen Entscheidung Zeit nehmen. Je länger dieser Zustand des „alles ist offen“ anhielt, desto mehr sah ich auch die Chancen darin. Es blieb damit auch alles möglich. Ich konnte nicht, also musste ich mich auch nicht Wochen vorher festlegen. Ich stellte fest, wie gut kurzfristige Entscheidungen funktionierten, ganz ohne Angst, dass es für irgendetwas zu spät sein könnte. All das war neu für mich. Ich überraschte nicht nur meine Familie und Freunde mit meiner „Schauen wir mal“ Mentalität, ich überraschte vor allem mich selbst. Kein Cool-Tun-wollen, sondern entspanntes Sein. Es irritierte mich immer seltener. Ich genoss es amüsiert, meinem neuen Ich beim Leben zuzuschauen.

 

Autorin Brit Gloss während der Auszeit 50plus in Portugal

 

Was wohl dieses neue Ich jetzt für Pläne mit mir hat? Während ich noch eine Träne verdrücke, weil das Ende der Auszeit plötzlich in Sicht kommt, setzt es sich zu mir und fragt leise: Was wäre, wenn das alles Sinn ergibt? Wenn es das Beste wäre, was dir passieren kann? Weil du mit einem Mal den Wert dieser Zeit ganz anders begreifst, fühlst, wie kostbar sie ist. Was nicht heißt, den Druck erhöhen zu müssen. Nur, sich jeden einzelnen Tag liebevoll und sehr bewusst zu fragen: Was will ich heute sein oder tun für die beste Version meiner selbst? Für das Morgen meiner Wahl, das genau jetzt beginnt? Nicht später und definitiv nicht erst, wenn ich wieder zu Hause bin. Es war mir noch nie so klar wie hier: Das, was ich heute denke und tue, ebnet den Weg dafür, wie ich morgen lebe.

 

Wie soll sich in meinem Leben etwas ändern, wenn ich die Dinge immer wieder so angehe, wie ich es schon immer getan habe? Ich weiß, wie sehr ich Herz und Hirn mit meiner Auszeit aus dem gewohnten Takt gebracht habe. Ohne Gewissheit, ob das, was hier auf mich wartet, beiden gefallen würde. Nun sind sie fast unbemerkt in einen neuen Rhythmus des Lebens eingetaucht, der Lust auf mehr macht.

 

 

Spielt der Musiker etwa nicht ohne Grund sein eindrückliches „Halleluja“? Laut genug, dass ich es nicht überhören kann? Passt das am Ende wieder einmal viel besser, als ich ahne? Meine Wehmut ist leiser geworden. Sie will mich nicht stören in meinen Gedankenspielen für die Zukunft. Dabei tut sie das nicht. Sie war und ist es, die mich hier am Ufer des Douro aufgeweckt hat. Einen Salat mit Sardinen und ein Glas Vinho de Porto „mais sirko“ später, bin ich wieder bei mir.

 

Was für ein herrlicher Tag. Ich ordere die Rechnung. Die nette Kellnerin quittiert mein Portugiesisch mit einem Lächeln. Eines, das sie mir in den vergangenen zwei Stunden immer wieder geschenkt hat, wenn ich mich um nettes Alltagsportugiesisch bemüht habe. Beim gemeinsamen Plausch über Porto, das Reisen und den Geschmack von Portwein hat sie meinen Wortschatz hilfreich erweitert. Vielleicht bin ich morgen wieder hier. Das Gesamtpaket ist verlockend.

 

Vielleicht ist es auch ein erster Gruß aus der Zukunft. Meiner Zukunft. Ein Gruß aus einer Zeit, in der ich als freie Autorin immer wieder nach Portugal reise, in das Land, in dem alles begann. Das Bild sieht verlockend aus. Ich bin bereit für den nächsten Schritt. Der Rest wird sich finden. Halleluja!

 

Portugal Porto Ponte Luís I, Auszeit 50plus
Neue Aussichten beim Blick von der Brücke Ponte Dom Luís
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