Dieses Fahrrad ist ganz sicher nicht ergonomisch auf mich eingestellt. Schon auf den ersten Metern rutscht die Sattelstange immer wieder nach unten. Und während ich in die Pedale trete, signalisieren mir meine Beine: Diese Sitzposition ist echt suboptimal. Damit scheint auch der morgige Muskelkater vorprogrammiert. Ich weiß.
Allerdings weiß ich nicht, wie ich es ändern soll. Bereits zum dritten Mal habe ich angehalten, um die Sattelhöhe auf mich einzustellen. Bereits zum dritten Mal rutscht der Sattel wieder auf Kindergröße, kaum, dass ich ein paar Meter gefahren bin. Als wäre das nicht genug, springt auch die Schaltung munter zwischen den Gängen hin und her, ohne dass ich etwas dazu beitrage.
Das Fahrrad scheint zu fragen: Willst du es trotzdem mit mir wagen? Will ich. Vor allem, weil ich jetzt mal meinen fünftägigen Inselhorizont erweitern und das nahegelegene Festland erkunden will. Zum Glück bin ich im flachen Land unterwegs, das sollte also auch ohne Gänge funktionieren.
Dass das ein Irrglaube ist, wird mir nur wenige Kilometer später bewusst: Ich habe die Insel verlassen und die Straße zieht sich jetzt auf einem langen, sanft ansteigenden Hügel nach oben. Vielleicht ist das ganze Unterfangen eine einzige Irrfahrt. Sei es drum, denn das Wichtigste ist, ich bin unterwegs. Und wenn es nur bis zum nächsten Supermercado ist, in dem ich mit Freddy zu Beginn meiner Reise war. Die vergangenen Tage erschien er mir wie ein fernes Ziel, zum Laufen zu weit und, an der Landstraße entlang, zu öde.
Ich ergebe mich der niedrigsten Übersetzung meiner Gangschaltung, die soeben erneut ohne mein Eingreifen einrastet, und trete stoisch vor mich hin. Ich werde nicht absteigen, flüstere ich mir leise zu. Fünfhundert Meter weiter steige ich ab. Sonst wäre ich höchstwahrscheinlich stehend vom Rad gekippt. Annehmen, was ist, trommelt es in meinem Kopf. Vielleicht geht es bei meiner Reise einfach gar nicht darum, was ich will? Vielleicht habe ich mir dieses Land unbewusst ausgesucht, damit es mir zeigt, wie sich wirkliches Annehmen anfühlt? Meilenweit entfernt vom Wunschkonzert. Ich hüte mich, diese Fragen jetzt schon beantworten zu wollen, ahne ich doch, dass es dann wieder anders kommt.
Als ich am nächsten Kreisverkehr ankomme, zücke ich mein Handy, um zu schauen, welche der drei Ausfahrten ich nehmen muss. Es hätte mir an dieser Stelle zu denken geben können, dass auf Google Maps die Auswahl „Fahrrad“ gar nicht angezeigt wird. Die Route für Autos sagt: 2. Ausfahrt und verweist auf die N-125. Zwei Klicks später weiß ich, das ist die örtliche Schnellstraße. Dort mit dem Rad unterwegs zu sein, fühlt sich vermutlich an wie mit Stützrädern auf der A13.
In Ermangelung an Alternativen taste ich mich trotzdem ein paar hundert Meter vor. Links neben mir ziehen Autos und Laster vorbei. Ich möchte gar nicht wissen, was den Fahrern bei meinem Anblick durch den Kopf geht, vielleicht ist die Polizei Faros längst informiert. Keine Frage, wenn ich hier weiterfahre, würde ich es definitiv in den portugiesischen Verkehrsfunk schaffen, vermutlich landesweit. Bei der verrückten Deutschen konnte man schließlich nicht wissen, wie weit sie gehen beziehungsweise radeln würde.
Nein, bei aller Liebe, das kann nicht der richtige Weg sein. Entweder, ich finde einen Schleichweg durch die Straßen der Vororte, oder es bleibt beim Ausflug zum Supermarkt. An dem war ich vorhin schon vorbeigekommen. Noch einmal bemühe ich die Karte meines Handys. Auf der einzigen Straße, die ich finde, prangt ein dickes Sperrschild aufgrund von Bauarbeiten. Nun gut, vielleicht ist ja per Rad doch ein Durchkommen möglich.
Als ich vor der Straße stehe, kommen mir allerdings Zweifel. Bulldozer, Bagger und Kipper stehen in der aufgewühlten Straße, die Luft ist staubig. Ich steige ab und schiebe mein Gefährt vorsichtig über den holprigen Boden, stets in Erwartung, dass mich einer der Bauarbeiter zurückpfeift. Keiner pfeift. Stattdessen grinsen sie, und einer von ihnen ruft mir zu „Atenção” - pass auf”. Dankbar lächle ich zurück. Ich würde hier durchkommen, holprig und mühsam, aber sei es drum.
Etwas später wird der Boden der Straße fester. Ich steige auf mein Fahrrad, es scheint überrascht, dass ich immer noch dabei bin. Zur Belohnung funktioniert jetzt auch die Gangschaltung nach meinen Wünschen. Nur der Sattel bleibt auf niedriger Höhe, aber das sehe ich als kleine sportliche Trainingseinheit. Morgen würde ich es vielleicht trotz Muskelkater bis an den Strand schaffen und den Rest des Tages im warmen Sand liegenbleiben.
Faro selbst entpuppt sich an diesem Tag als recht verschlafen. Coronabedingt ist auch hier der Großteil der Geschäfte zu. Die wenigen, die neben den kleinen Lebensmittelläden geöffnet haben, dürfen nur an der Ladentür verkaufen. Auch die meisten Cafés und Restaurants sind geschlossen.
Schon erstaunlich, wie sich das Bild einer Stadt und damit das Lebensgefühl verändert, wenn das sonst so gewohnte öffentliche Leben darniederliegt. Keine Postkartenständer, keine flatternden Tücher, keine Sonnenbrillen vor den Geschäften. Kein Flanieren über die Fußgängerzone vorbei an Cafés voller Gäste. Die Stadt liegt so verträumt da, wie ihre kleinen Boote, die im Hafen still vor sich hinschaukeln.
In einem kleinen Bistro direkt am Wasser hole ich mir ein Sandwich und setze mich auf eine der Parkbänke mit Blick aufs Hafenbecken. Ich bin in Faro City, mehr wollte ich an diesem Tag nicht. Ich blicke auf mein Fahrrad. Und wenn ich es nicht genau wüsste, dass es eigentlich unmöglich ist, würde ich wetten, es hat mir soeben zugezwinkert. Vielleicht ist es ja auch froh, mal von der Insel runtergekommen zu sein?
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Auszug aus dem 33. Kapitel
Der Hund nähert sich in einer zauberhaften Promenadenmischung aus zielstrebig und unschlüssig. Ich kenne ihn. Er fiel mir gestern schon auf, als er vor dem Haus langsam die Straße entlanglief, sein hellbraunes Fell zerzaust, das linke Ohr leicht abgeknickt. Womöglich der Preis der Freiheit.
Er ist nicht der Schönste, nicht der Gepflegteste, nicht der Wohlgenährte unter den Hunden hier, die es zuhauf gibt. Doch er strahlt eine innere Stärke aus, dass ich den Blick kaum von ihm lassen kann. Für ihn gibt es keine Zäune, Hecken, Mauern, geschweige denn Leinen, die den Radius seines Lebens minimieren könnten. Dafür verzichtet er auf fertiges Futter in der Schale, er nimmt, was das Leben ihm bietet. Es wird nicht immer ein Zuckerschlecken sein. Ich begrüße ihn wie einen alten Freund.
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Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel!