Eigentlich wollte ich schon vor gut einer Stunde vor die Tür gehen, habe es aber zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben. Mit meinem verheulten Gesicht würde ich vermutlich nur das Mitgefühl wildfremder Menschen auf mich lenken. Dabei weine ich nicht aus Verzweiflung, sondern vor lauter Rührung.
Schuld daran ist AGT, „Amercia's Got Talent“, dass seit jener vergangenen Stunde auf dem Display meines Handys läuft. Begonnen hat es mit einem kurzen Clip, der mir auf Youtube vorgeschlagen wird, und den ich mir mal eben kurz anschaue. Danach kann ich jedoch nicht mehr aufhören und klicke mich von Video zu Video, wie eine Süchtige.
AGT ist eine amerikanische Unterhaltungsserie, in der Kandidaten vor eine vierköpfige Jury treten, um ihr Können im Singen, Tanzen oder anderen künstlerischen Darbietungen unter Beweis zu stellen. Diese Videoclips haben seit ein paar Tagen eine regelrechte Sogwirkung auf mich. Am liebsten mag ich die Ausschnitte, in denen der Kandidat so gut ist, dass er von einem der Jurymitglieder mit dem begehrten „Golden Buzzer“ belohnt wird. Was folgt, ist nicht nur ein Regen aus goldenem Konfetti vom Bühnenhimmel, der die Goldmarie in Grimms Märchen erblassen lassen würde, es bedeutet vor allem den direkten Einzug aus der Vorrunde ins Halbfinale. Den Sieger der Show erwartet die stolze Summe von einer Million Dollar.
Beim Zusehen wird mir klar, dass es vielen längst nicht nur ums Geld geht. Auf dieser Bühne können vielmehr Träume wahr werden für eine große Künstlerkarriere. Und damit die Aussicht auf ein Leben, in dem man endlich das verwirklichen kann, was man mit ganzem Herzen tun will: singen, tanzen, sein Instrument spielen – Menschen unterhalten, berühren, faszinieren, statt wie bisher vielleicht Pizza auszufahren oder Grundschüler zu unterrichten.
Manchmal wünsche ich mir in diesen Tagen, ich könnte so gut singen wie einer dieser Männer, Frauen, Kinder, die sich vor diese Jury trauen – und ganz nebenbei auch noch vor ein Millionenpublikum an den Bildschirmen zu Hause.
Ich liebe diese Momente, in denen die Kandidaten mit Tränen in den Augen auf der Bühne stehen, sich nicht bewusst, wie unglaublich gut sie sind, und staunend das vollmundige Urteil der Jury und die Standing Ovations des Publikums vernehmen. Ich kann mich gerade nicht sattsehen an diesen Szenen, als könnte ich mich an ihren Erfolgsgeschichten aufladen für meinen eigenen Weg.
Manchmal wünsche ich mir in solchen Momenten, auch ich hätte Gelegenheit, mich einmal einer Jury und einem Millionenpublikum zu stellen. Einmal ein „Urteil“ zu hören über das, was ich schreibe. Einmal zu hören, ob das wirklich gut genug ist, um meinen Traum vom Schreiben weiter zu verfolgen – oder es, wenn es denn nicht genügt, für immer bleiben zu lassen. Vielleicht sehne ich mich mit diesem Urteil nach der Sicherheit, die es für Autoren oder überhaupt für Künstler nicht gibt, nicht geben kann?
Ich spiele hier immer wieder mit dem Gedanken, alle Sicherheit hinter mir zu lassen und eines Tages komplett auf das Standbein Schreiben zu wechseln. Und gleichzeitig macht mir das Wissen, wie gut ich es gerade in meinem jetzigen Job habe, so unfassbar schwer, diesen Gedanken länger als einen Wimpernschlag ernsthaft zu verfolgen. Weil fast im selben Moment das Horrorszenario Gestalt annimmt, was passieren würde, wenn ich genau das täte: Selbstverwirklichung probieren auf die Gefahr hin, dass ich in einem Jahr kurz über der Armutsgrenze dümple. Erfolglos, unbekannt, unzufrieden und traurig belächelt von Menschen, die mir gleich gesagt haben, dass das nicht gut gehen kann. Und dass ich es hätte wissen müssen. Zumal sie mich doch gewarnt hatten, wiederholt, wohlgemerkt. Ich hatte ein komfortables Leben leichtfertig und undankbar weggeworfen.
Eine gute halbe Stunde später gehe ich mit frisch gewaschenem Gesicht und ein paar weißen Notizblättern in der Tasche doch noch vor die Tür und lasse mich wenig später in einem kleinen Café in der Fußgängerzone nieder.
Nachdem ich mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen bestellt habe, nehme ich mir Zettel und Stift. Noch etwas zögerlich, ob ich wirklich wissen will, wie die geplatzte Blase meiner Träume in all ihren Einzelheiten aussehen könnte, beginne ich zu schreiben. Ich will das Horrorszenario in allen Einzelheiten aufzeichnen, mit mir in der Bildmitte und allen vorstellbaren Farbstufen:
Zum einen könnte sich herausstellen, dass ich vom Schreiben, auch wenn ich in Vollzeit dafür arbeiten würde, doch nicht leben kann. Weil ich nicht genug Menschen erreiche. Und weil ich das, was ich schreibe, nicht in bare Münze verwandeln kann. Dass ich deshalb doch einen Brotjob brauche, der mir den Luxus des Schreibens in meiner Freizeit erlaubt.
Damit wäre ich direkt bei Horrorszenario Nummer zwei. Der Tatsache, dass es mit dem Job, den ich mir in den vergangenen Jahren erfolgreich aufgebaut hatte, zu diesem Zeitpunkt auch vorbei wäre. Weil ich ihn auf dem Weg in die Selbstverwirklichung hinter mir gelassen hatte und in eine Zukunft gerannt war, die durch meine rosarote Brille vielversprechend ausgesehen hatte. Ich müsste mir also einen neuen Job suchen. Und meine Zukunft würde sich als mittelmäßiger vierzig-Stunden-Job und stark ausgebremsten Rentenansprüchen entpuppen.
Außerdem auf der Farbpalette vorhanden: Nicht einmal auf Mitgefühl brauchte ich zu hoffen. Vielleicht ein Schulterklopfen, ein "Kopf hoch". Letztlich aber war ich selbst schuld. Ich hatte nicht hören wollen. Also musste ich jetzt fühlen. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.
Aber bin ich hochmütig, nur weil ich hundert Prozent meiner Zeit schreiben will? Wäre das, was ich will, zu viel verlangt vom Leben? Hatte ich schon genug abbekommen? Kein Grund für eine extra Portion? Jetzt waren erst mal die anderen dran, bevor aus mir eine Bestsellerautorin werden durfte? Ich besaß doch schon die Gnade des Schreibens. Musste denn nun auch noch ein Vollzeit-Traumjob daraus werden? Ich hatte doch genügend Stunden in meiner Freizeit für meine literarische Seite übrig.
Ich will ehrlich sein: Das Horrorszenario macht mir Angst, weil ich tatsächlich eine ganze Menge zu verlieren habe. Ist es mir das wert?
Das Problem ist, dass ich – ähnlich wie viele der „Golden Buzzer“-Kandidaten kein Gefühl dafür habe, wie gut ich wirklich bin. In der Waagschale sind da einerseits begeisterte Kommentare von Lesern meiner Bücher und Kolumnen sowie von den Besuchern meiner Lesungen. Auf der anderen Seite jedoch dümpeln die Verkaufszahlen meiner Bücher immer noch in einer Größenordnung, in der ich über „vom Schreiben leben wollen“ nicht einmal nachzudenken brauche. Ich kann vom Verkauf meiner Bücher bislang nicht leben. Es finden mich zu wenige. Ich fliege wie unter Radar. Manchmal finden mich Leser eher aus Versehen. Das jedenfalls kann nicht der Weg sein. Was also kann ich tun, um mein Radarfeld zu vergrößern? Um mich einem viel größeren Publikum sichtbar zu machen? Und wenn wir schon beim groß denken sind, müsste mein Erfolg genaugenommen auch nicht an der deutschsprachigen Grenze enden.
„Don't worry“ läuft aus der Box im Café. Der gemütliche Sessel, der mir einen Blick auf die Fußgängerzone erlaubt, ist immerhin ein wohlmeinendes Ambiente für meine Zukunftsspiele. „Mach dir keine Sorgen“ ist trotzdem leichter gesagt als getan.
Ich lasse die vergangenen Wochen meiner Auszeit Revue passieren und spüre in die kleinen und großen Momente hinein: Die Freiheit, immer und überall schreiben zu können, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Zu erleben, wie viel innerhalb kurzer Zeit entstehen kann. Wie viele Themen mich hier finden, die ich schreibend aufgreife. Hier in Portugal lebe ich also schon einen beachtlichen Teil der Möglichkeiten. Vielleicht ist das eine Variante auf dem Weg des „Don't worry“?
Und noch ein Gedanke kommt mir, für den Fall, dass ich nichts mehr anderes will, außer zu schreiben, ganz gleich, was die Finanzen sagen: Dann löse ich meine Wohnung auf, schaffe das Auto ab und ziehe dahin, wo es sich so gut und preiswert wie möglich leben lässt, gepaart mit dem Ziel, mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein.
Ich merke jetzt schon, wie wenig ich hier kaufe, abgesehen vom Essen. Es reizen mich weder Kleidung, noch Keramik, noch andere Andenken. Mein Rucksack packt sich vermutlich auch deshalb jedes Mal innerhalb von weniger als einer Stunde. Ich trage hier wieder und wieder dieselben Klamotten aus einem Angebot von zehn, fünfzehn Teilen in unterschiedlicher Kombi. Bislang ist mir kein Ich-hab-nichts-anzuziehen-Tag untergekommen. Alle Sachen sind mir gleichermaßen willkommen. Meinem Konto lässt das in diesen Wochen immer wieder Zeit zum Durchatmen. Unglaublich, was ich zu Hause für viele kleine Dinge ausgebe, ohne dass ich mich dem Konsumwahn verfallen fühle. Hier fällt das alles weg, und ich fühle mich leicht. Nicht nur mit meinem Rucksack auf dem Rücken, sondern auch beim Blick in den Kleiderschrank des jeweiligen Apartments.
Als nächstes werde ich eine Ausgabenliste zusammenstellen und mir überlegen, wie dehnbar all das ist. Wie facettenreich mein Leben aussehen könnte: von der Villa am Elbhang bis zum Tiny House auf dem Land. Die Rechnung ist also noch lange nicht zu Ende geschrieben. Die Liste der Möglichkeiten und Wägbarkeiten ebenso wenig. Wahrscheinlich gilt auch hier, ein Schritt vor den anderen zu setzen.
Ich lehne mich zurück und schaue auf die vollgeschriebenen Seiten vor mir. Es fühlt sich gut an, meine Gedanken aus dem Kopf aufs weiße Blatt formuliert zu haben. Ich muss grinsen: Ich bin bereit für eine neue Runde Emotionen – bereit für eine neue Folge „America’s Got Talent“. Zum Heulen schön.
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