Als ich die Augen öffne, schießt mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf und mit einem Schlag bin ich hellwach: Ich habe nicht auf mein Gepäck aufgepasst! Hektisch schaue ich mich um, kann aber meine Tasche nirgendwo entdecken. Weg. Und damit Handy, Geld und ec-Karte.
Was für ein beschissener Anfängerfehler, hämmert es in meinem Kopf.
Erst den Bruchteil einer Sekunde später fällt es mir ein: Ich hatte gar keine Tasche dabei. Zum Strand hatte ich nur Jacke, Schlüssel und ein Handtuch mitgenommen. All das ist noch da. Warum will sich dann keine Erleichterung einstellen? Eher im Gegenteil: Mein Herz rast, ich könnte heulen und spüre im selben Moment auch warum: In mir ist so eine unfassbar große Anspannung. Als würde ich mich nicht trauen, einfach mal locker zu lassen. Mein vermeintlicher Fehler, ich hätte nicht auf meine Sachen aufgepasst, zeigt mir mit voller Wucht, wie hart ich gerade mit mir bin.
Was ist nur los? Ich wollte doch gut zu mir sein? Wie oft habe ich mir und anderen zu Hause erzählt, ich will mir in dieser Auszeit nichts beweisen. Jetzt wird mir klar: Ich will es mir eben doch beweisen. Ich will diese Auszeit hinbekommen, vom ersten Tag an. Obwohl ich noch gar keine Ahnung habe, was genau ich darunter verstehe. Ich will mir wohl vor allem erzählen können, dass es richtig ist, hierher gegangen zu sein. Gewissheit haben, dass es kein Fehler war. Dass ich nicht mit eingezogenem Kopf wieder nach Hause fahren muss, weil ich erkannt habe, wie gut ich es daheim habe. Und wie schwer bis unmöglich es für mich ist, in einem fremden Land allein zu sein, ohne mich einsam zu fühlen.
Dabei schreiben wir gerade einmal Tag vier meiner Auszeit. Ich könnte mich entspannen und mir sagen, dass es ganz normal ist, besonders am Anfang gute und schlechte Momente zu haben. Wer weiß, vielleicht auch die gesamte Zeit? So, wie es ja auch zu Hause gute und schlechte Tage gibt. Ich jedoch bin enttäuscht von mir, weil in meinen Augen noch immer nicht zweifellos feststeht, dass das hier mein Ding ist, mein Weg.
Ich fühle mich immer mal wieder überfordert hier. Aus einem einfachen Grund: Ich habe nicht erwartet, dass dieser Anfang so emotional werden würde. Ich will es auch immer noch nicht wahrhaben. Ich kann nicht glauben, dass es so auf und ab geht – von überglücklich bis tieftraurig. Doch genau das tut es. Ungefragt, unvorhersehbar, unkontrollierbar. Mehr als einmal sitze ich am Strand, ein breites Grinsen im Gesicht und denke: Unglaublich, ich habe es wirklich getan. Ich bin hier. Am nächsten Tag sitze ich am selben Strand, die Tränen fließen und in mir ist nichts außer der Sehnsucht nach etwas, dass mir vertraut ist. Nach etwas, worüber ich nicht erst lange nachdenken muss. Was mich nicht so unsicher sein lässt. Etwas, dass ich im Schlaf beherrsche.
Doch damit kann dieser herrliche Strand, dieses wunderbare Fleckchen Erde nicht dienen. Denn es ist nichts vertraut. Weder Ort, noch Sprache, noch Menschen. All das muss erst nach und nach von mir entdeckt werden. Ich sitze in dieser einzigartigen Kulisse und sehe sie nicht. Mitten im Paradies bin ich auf der Suche nach Gewohntem. Blöd, oder?
Irgendetwas flüstert in mir: Du kannst erst hier ankommen und erkennen, womit dich dieses Land beschenken will, wenn du das Alte, Vertraute ziehen lässt. Ist ja nicht für immer. Doch wie mache ich Kopf, Hände und vor allem Herz frei, um Raum für das Neue zu schaffen?
Überrascht stelle ich fest, dass Körper und Geist sich selbst helfen: Ich träume. Jede einzelne Nacht träume ich von zu Hause. So intensiv, so echt. In meinen Träumen sitze ich in Familie am heimischen Esstisch, treffe ich mich mit Freunden, beratschlage mit den Nachbarn die Balkonbepflanzung, ich bin unterwegs in meinem Kiez. Wache ich morgens auf, brauche ich einen Moment, um zu realisieren: Nichts von alledem ist gerade in meinem Leben. Ich bin in einem anderen Land, mein Zuhause weit, weit entfernt.
Es ist wie ein kurzer, unerwarteter Schlag in die Magengrube. Ich erhole mich mal schneller, mal weniger schnell davon. Ich trauere dem Liebgewonnenen nach und hoffe still auf andere Träume in der kommenden Nacht. Doch mein Herz ist noch nicht fertig mit feucht Durchwischen, es braucht noch. Es wird vermutlich auch die nächsten Tage die eine oder andere Träne fließen. Besser, ich gewöhne mich daran und lasse es einfach laufen.
Abends ertappe ich Mitbewohner Freddy ungewollt jenseits der geöffneten Badtür, wie er sich angeregt mit seinem Spiegelbild unterhält. Wenig später kommt er in die Küche und meint achselzuckend: „Ich bin schon eine ganze Weile allein unterwegs, da führe ich ab und an Selbstgespräche.“ Ich muss grinsen und antworte: „Ich bin erst vier Tage hier und rede schon mit mir. Also kein Grund zur Panik.“ Ein befreites Lachen erfüllt die Küche, wir schnappen uns die letzten beiden Flaschen kaltes Bier aus dem Kühlschrank, setzen uns auf den Balkon und trinken. Jetzt, wo wir jemanden zum Reden hätten, schweigen wir. Einvernehmlich.
Ihr wollt meine Arbeit als Autorin unterstützen?
Das geht ganz einfach:
"Für die Kaffeekasse" - 5 Euro: paypal.me/britgloss/5
"Aber bitte mit Sahne" - 10 Euro: paypal.me/britgloss/10
oder ein frei wählbarer Betrag: paypal.me/britgloss
Dankeschön ;-)
Auszug aus dem 32. Kapitel
Dieses Fahrrad ist ganz sicher nicht ergonomisch auf mich eingestellt. Schon auf den ersten Metern rutscht die Sattelstange immer wieder nach unten. Und während ich in die Pedale trete, signalisieren mir meine Beine: Diese Sitzposition ist echt suboptimal. Damit scheint auch der morgige Muskelkater vorprogrammiert. Ich weiß. Allerdings weiß ich nicht, wie ich es ändern soll. Bereits zum dritten Mal habe ich angehalten, um die Sattelhöhe auf mich einzustellen. Bereits zum dritten Mal rutscht der Sattel wieder auf Kindergröße, kaum, dass ich ein paar Meter gefahren bin.
Als wäre das nicht genug, springt auch die Schaltung munter zwischen den Gängen hin und her, ohne dass ich etwas dazu beitrage. Das Fahrrad scheint zu fragen: Willst du es trotzdem mit mir wagen?
Tja, will ich?
Und überhaupt - wo will ich hin?
Nächsten Freitag gibt's das komplette Kapitel ;-)
Bis dahin - schön neugierig bleiben...