Vielleicht endet meine Reise schon, bevor sie richtig angefangen hat: am Flughafen von Faro, am Schalter für die Einreise. Weil all die Papiere und Tests, die ich bei mir trage, keine Gnade finden würden vor den Augen des portugiesischen Beamten hinter der Scheibe.
Ebenso wenig Gnade, wie für die Einreiseunterlagen des älteren Pärchens, dass vor mir in der Schlange steht: fassungslos, ratlos. Ich könnte die Heimreise gleich gemeinsam mit ihnen antreten. Kein Wunder also, dass gerade auch meine bis eben sicher geglaubte Auszeit im Land meiner Wahl gehörig ins Wanken kommt.
Dabei verlief meine Tour bislang erstaunlich problemlos.
Amsterdam entpuppte sich als äußerst entspannter Ort für meine Zwischenlandung, mit angenehm kurzen Wegen zwischen Ankunft und Weiterreise. Mein Flug nach Faro war pünktlich gestartet und ebenso punktgenau gelandet. Bis eben war ich mir sicher, dass alles nur noch eine reine Formsache ist, schließlich war mein Ausweis samt PCR-Test schon x-fach kontrolliert worden. Bislang ohne Beanstandungen. Was also sollte jetzt noch schiefgehen? Sowieso wuchs langsam meine Ungeduld. Ich wollte endlich ankommen, in Portugal, in meinem Quartier und dabei am besten auch gleich feststellen, dass ich alles richtig gemacht hatte. Sportlicher Zeitplan, wenn man bedenkt, dass ich seit gerade einmal dreißig Minuten im Land bin. Nun allerdings wird es auf den letzten Metern noch einmal spannend. Denn mit zunehmender Verunsicherung nehme ich wahr, welche Szene sich gerade direkt vor meinen Augen abspielt.
Das Ehepaar, älteren Semesters, vor mir in der Schlange des Abfertigungsschalters stammt, dem Dialekt nach zu urteilen, aus dem tiefsten deutschen Süden. Alles an den beiden wirkt akkurat und in deutscher Gründlichkeit gewissenhaft. Soeben haben sie dem Schalterbeamten ihre Unterlagen durch den flachen Schlitz in der Scheibe zugeschoben. Kurz checkt dieser ihre Pässe, dann bleibt sein Blick an den beiden Test-Bescheinigungen hängen. Er runzelt die Stirn, dann höre ich ein „Nao“, das portugiesische Nein. Kopfschüttelnd meint er: „This is not a PCR-Test.“ Das Ehepaar scheint keinen gültigen Corona-Test zu haben, jedenfalls nach Einschätzung des Beamten. Er reicht ihnen die beiden A4-großen Zettel zurück, als wolle er ihnen noch eine zweite Chance geben. Das waren nicht die richtigen, aber vielleicht haben sie ja noch andere dabei? Mit mehr Aussicht auf Erfolg?
In holprigem Englisch beteuern die beiden, dass das sehr wohl gültige Tests sein müssen, schließlich seien sie von ihrem Hausarzt ausgestellt. Mehrmals wiederholt der Mann, dass ihr Hausarzt höchstpersönlich die Tests vorgenommen habe. Und damit seiner Ansicht nach ein Fehler vollkommen ausgeschlossen sei. Doch der Beamte schüttelt weiterhin den Kopf.
Ein paar Minuten geht es hin und her. Jede Seite – vor wie hinter der Scheibe des Schalters – wiederholt die immer selben Sätze. Als wäre die Nadel des Schallplattenspielers hängengeblieben. Ich beobachte still die Situation und frage mich, wie es wohl ausgehen wird? Wer gewinnt am Ende? Derjenige, der länger durchhält mit seinem Text? Oder endet hier tatsächlich die Reise der beiden? Vielleicht ja auch gleich meine, weil auch ich den falschen Test vorzeige? Welche Geschichte könnte ich über meine Auszeit erzählen, die aufgrund eines Formfehlers bereits am Airport von Faro endet?
Komischerweise fällt mir schon in diesem Moment ein passender Buchtitel ein: „FAO“. Das ist der IATA-Code des Flughafens und brächte meine Story auf den Punkt: Das plötzliche Ende meiner hochfliegenden Pläne, kurz und schmerzlos, gleichzeitig auch irgendwie emotionslos, weil ich es vermutlich nicht einmal schaffe, binnen der dreißig Minuten, die ich im Land verbracht habe, in Tränen auszubrechen. Die steigen wahrscheinlich erst in meine Augen, wenn ich noch immer fassungslos in der heimischen Straßenbahnlinie Nummer 4 säße, zwei, drei Stationen von meiner Wohnung entfernt. Wie war ich nur auf die verrückte Idee gekommen zu glauben, ich würde tatsächlich einhundert Tage in einem anderen Land leben, einfach so?!
Die drei Protagonisten vor mir sind mit ihrer Diskussion immer noch nicht weitergekommen. Dafür hat der Beamte am benachbarten Schalter ein Einsehen mit den übrigen Wartenden und winkt uns zu sich herüber. Mag sein, dass ich auf diese Weise dem Nein-Sager noch mal von der Beamtenschippe gesprungen bin! Eigentlich kann es nur besser werden, denke ich bei mir. Ich straffe mich innerlich, hebe das Kinn und trete nach vorn. Auf den wenigen Metern versuche ich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, ohne mich anbiedern zu wollen. Am liebsten würde ich sagen: Ich weiß, Sie machen hier auch nur Ihren Job. Aber lassen Sie mich doch bitte einfach durch. Doch dafür reichen meine bisherigen Kenntnisse der Landessprache definitiv nicht aus.
Stattdessen probiere ich es spontan mit einem „Boa tarde“. Immerhin huscht die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht. Es sind meine ersten portugiesischen Worte auf portugiesischem Boden. Wer weiß, vielleicht auch gleich meine letzten. Der Beamte schaut kurz in meinem Pass, zwei Sekunden auf das Blatt mit meinem Testergebnis, findet dort scheinbar das, wonach er sucht, und winkt mich durch. Ich habe mit der Wahl meines Testzentrums vermutlich auf die richtige Adresse gesetzt. Dabei war es nicht einmal mein Hausarzt, sondern die Stadtapotheke, der ich diesen Erfolg verdanke. Überrascht nuschle ich ein „Obrigada“ und gehe an ihm vorbei. Ich bin drin! Fehlt nicht viel, und ich kneife mich mal kurz, um es auch zu glauben.
Als ich ein paar Meter weiter am Gepäckband ankomme, blicke ich noch einmal zum Abfertigungsschalter zurück. Das ältere Paar steht immer noch da, jetzt ohne Zuschauer aus der Schlange, denn alle anderen Passagiere sind bereits abgefertigt. Mittlerweile ist noch ein zweiter Beamter hinzugekommen. Keine Ahnung, ob das für die zwei von Vorteil ist. Ich werde nicht erfahren, ob sie es schaffen, aber ich drücke ihnen die Daumen, ich habe gerade noch beide Hände frei!
Kurz darauf ruckelt das Gepäckband los und ich entdecke meinen Rucksack, der eng an einen grünen Koffer geschmiegt liegt. Vielleicht ist er genauso froh, mich wiederzusehen, wie ich ihn. So fühlen wir uns nicht ganz so allein im fremden Land. Ich setze meinen Rucksack auf, stelle in Ruhe die Träger ein und laufe langsam in Richtung Ausgang. In Gedanken stelle ich mir vor, wie sich die Glastüren gleich leise surrend öffnen würden, dahinter unter den vielen Wartenden ein Mann, der ein großes Pappschild in der Hand hält: „Brit Glos“. Ich würde schmunzeln über den kleinen Schreibfehler in meinem Namen. Immer noch berührt von diesem netten Empfang, wären wir in weniger als einer halben Stunde in meinem ersten neuen Zuhause. Wer weiß, vielleicht würden wir noch einen kleinen Zwischenstopp einlegen, bei dem ich selig und immer noch ungläubig staunend einen ersten Café com Leite trinke.
Als sich die Glastür öffnet, ist es dahinter menschenleer. Niemand wartet auf seine Liebsten, niemand wartet auf mich. Einen kurzen Moment bin ich enttäuscht, auch wenn ich weiß, dass das eben pures Wunschdenken war. Langsam durchschreite ich die Halle, links und rechts leuchten riesige Werbeplakate und künden von einer traumhaften Zeit unter der südlichen Sonne Portugals. Die darauf abgebildeten Menschen, alte wie junge, lächeln leicht entrückt – ohne Maske. Sie wirken wie aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Auch auf dem Vorplatz des Flughafens ist es erstaunlich still um diese späte Nachmittagsstunde. Es kommen und gehen pandemiebedingt kaum Flüge am sonst lebhaften Drehkreuz der Algarve.
Der Himmel ist blau, die Sonne steht schon tief, verströmt aber immer noch eine wunderbare, ungewohnte Wärme. Suchend schaue ich mich um. Auf den ersten Blick kann ich weder eine Bushaltestelle noch einen Taxistand entdecken. Einen Moment lang bleibe ich unschlüssig stehen. Etwas weiter entfernt sehe ich ein Paar und eine jüngere Frau mit Kleinkind. Ich laufe in ihre Richtung. Und siehe da, ein paar Minuten später taucht genau dort auch das erste Taxi auf. Zehn Minuten später sitze ich in einem Großraumtaxi, das mich auf die kleine Insel fährt. Zum ersten Mal überquere ich die schmale Brücke zwischen Faro und Praia de Faro, die ich bisher nur von Fotos kenne.
Der Wagen hält vor einem kleinen, zweistöckigen Haus. Sein Aussehen wirkt so, als sei es die Großmutter des Hauses, welches ich auf Airbnb gebucht habe. An der geschwungenen Fünf aus Metall, die an der Säule neben dem Tor hängt, kann ich jedoch unschwer erkennen: Das hier ist exakt meine Adresse. Vom oberen Balkon guckt ein großer Hund durchs Geländer, ein leises Knurren ist zu hören.
Der Taxifahrer stellt meinen Rucksack auf den Gehweg, über jeden Zweifel erhaben. Seiner Meinung nach hat er das Ziel dieser Fahrt erreicht. Ob mir das gefällt oder nicht, betrachtet er nicht als seine Angelegenheit. Womit er ja auch Recht hat. Nur ich muss mich erst einmal an den Anblick des Hauses gewöhnen. Die abgeblätterte Farbe der Fassade und die mit alten Baumaterialien vollgestellte Einfahrt haben so wenig gemein mit den strahlenden Bildern des Quartiers auf Airbnb. Ich hieve meinen Rucksack auf den Rücken und laufe einmal um das Haus herum. Vielleicht erwarte ich insgeheim, dass sich die Rückseite als das wahre Schmuckstück erweist? Doch auch hier liegt alles ziemlich verwahrlost.
Wieder vor der Hausfront, erspähe ich neben der Eingangstür einen kleinen Kasten mit den Tasten für den Zahlencode. Ich tippe ihn ein und bin irgendwie erleichtert, dass er funktioniert. Trotz abblätternder Farbe sehne ich mich nach meinem Zimmer. Der Türsummer brummt leise, und ich drücke entschlossen gegen die Tür. Mit einem lauten Ächzen gibt sie nach. Der kleine Flur dahinter ist schmal und gibt den Blick frei auf eine steile Treppe. Lass es gut werden, schießt es mir durch den Kopf. Ich zücke mein Handy, mache ein Foto, um mich an diesen Moment zu erinnern, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass ich den nicht so schnell vergessen werde. Dann steige ich die Treppe hinauf.
Auszug aus dem 28. Kapitel
Die Matratze ist viel weicher als zu Hause. Durchgelegen, denke ich, trifft es genauer. Dafür liegt das Kissen steif unter meinem Kopf, die kleinen Bällchen der Kunststofffüllung drücken sich in Knubbeln durch den dünnen Bezug. Mein Blick fällt auf die beiden blassgelben Handtücher, die ich nach dem Duschen zum Trocknen über Türklinke und Fernseher geworfen habe. Etwas Anderes zum Aufhängen habe ich in dem kleinen Zimmer nicht gefunden.
Mein Rucksack steht nahezu unausgepackt unterhalb des Fensters. Es gibt keinen Schrank, nur eine schmale Kommode in der einen Ecke und eine Kleiderstange mit drei Bügeln in der anderen. Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, meine Sachen auf das Wenige zu verteilen. Die erste Nacht in Praia de Faro, ich liege allein in meinem Zimmer und fühle mich fehl am Platz.
Nächsten Freitag lest ihr das ganze Kapitel ;-)