Warme Tränen rollen lautlos über meine Wangen, tropfen auf das Kissen unter meinem Kopf. Ich drehe mich zur Seite und schluchze leise in den rauen Stoff der blau-weiß gestreiften Bettwäsche. Der erste Abend im Schullandheim, und in meiner Brust wummert das Heimweh. Nicht zum ersten Mal.
Und nun will ich ernsthaft drei Monate an einen mir noch unbekannten Ort? Länger, als ich jemals irgendwo andersgewesen bin? Will ich das wirklich? Ausgerechnet ich, die schon seit frühester Kindheit weiß, wie schmerzhaft Heimweh ist? Die in kein Ferienlager wollte, nicht bei Verwandten blieb und jede verdammte erste Nacht im Schullandheim lautlos in die Kissen weinte? Bin ich mir sicher, dass ich weiß, was ich da vorhabe?
Nein, bin ich mir nicht. Kann ich auch gar nicht sein. Es ist ja mein erstes Mal. Ich kann nur sagen, es fühlt sich gerade alles genau richtig an.
Die Vorfreude. Die Begeisterung. Die Vorstellung, lange woanders bleiben zu dürfen. Nicht zu müssen. Freiwillig, selbst gewählt. Das Abenteuer, nicht einfach nur zwei, drei Wochen Urlaub zu
machen, sondern über Wochen in der Fremde leben zu können, einzutauchen in dieses andere Leben. Wer will schon vorhersagen, welche Gefühle da hochkommen werden? Vielleicht vermisse ich mein altes
Leben. Und wenn schon. Wäre das nicht auch ein schönes Signal? Dass ich es da, wo ich vermeintlich alles kenne und nichts Neues auf mich zu warten scheint, gut habe? Mich wohlfühle? Es liebe?
Auch das darf mir diese Reise als Erfahrung schenken.
Ich bin nicht auf der Suche nach „schöner, besser, weiter“. Wenn ich überhaupt etwas suche, dann das Andere. Anders als ich es kenne, anders als es mir vertraut ist. Und ja, auch anders als ich mich kenne. Allein auf mich gestellt. In einem Land leben, dessen Sprache nicht die meine ist. Eine Sprache, die ich vielleicht ein bisschen verstehe, vielleicht auch überhaupt nicht. In einem Land sein, das mich womöglich zur Ruhe zwingt, weil mir die Worte fehlen. Niemanden wie selbstverständlich zum Reden zu haben. Und selbst wenn man mit jemandem ins Gespräch kommt, fehlen die vertrauten Lauten, weil diese Sprache nichts für mich Vertrautes hat.
Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Ich werde es nicht erfahren, wenn ich es nicht versuche. Im Ausland war ich schon oft. Allein jedoch noch nie. Und erst recht nicht für längere Zeit. Das heißt definitiv, raus aus der Komfortzone – und das meint hier nicht nur die gemütliche drei-Zimmer-Wohnung, sondern das Sicherheits-Wohlfühl-Terrain. Angst jedoch ist bislang kein Thema. Das überrascht mich wirklich. Ich weiß, wie lähmend sie sich anfühlen kann, wie sie Pläne scheitern lässt und manchen Gedankenblitz zum Erlöschen bringt, noch bevor er seinen Zenit erreicht. Doch statt Angst breiten in mir immer häufiger Freude und Euphorie ihre Schwingen aus und bringen mein Projekt mehr und mehr auf Flughöhe.
Ich weiß nicht, wie ich mich entscheide, wenn die Angst plötzlich doch noch Einzug hält. Wenn sie mir locker auf die Schulter klopfen und zuraunen würde: „Netter Versuch, Brit, aber nein. Wir bleiben zu Hause.“ Hätte ich den Mut, es trotzdem zu wagen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, ich will nicht all meinen Mut zusammenkratzen müssen. Ich will nichts wegdrücken und mir erst recht nicht einreden, alles ist gut, obwohl ich die Hosen gestrichen voll habe. Ich habe keine Lust auf Machtspiele. Ich will diese Auszeit, wie noch nie zuvor – und doch nicht um jeden Preis. Mein Wohlbefinden ist das Maß der Dinge, nicht nur während der Reise, sondern schon auf dem Weg dahin.
Ich vertraue darauf, dass es gut wird. Ich weiß nicht, warum. Dem Verstand fallen mindestens tausend Gründe ein, das ganze Vorhaben zu den Akten zu legen. In stillen Momenten ist er der Lauteste, der mit mir spricht. Er kann mit meinem beschwingten Gefühl, das sich vom ersten Moment an eingestellt hat, und erst recht mit meinem Dauergrinsen so rein gar nichts anfangen. Ich vermute, er hofft insgeheim darauf, dass ich eines Morgens aufwache und wieder zur Vernunft komme. Ich bin mir erstaunlich sicher, ihn enttäuschen zu müssen. Mir ist mittlerweile etwas klargeworden, was er noch nicht wissen kann: Obwohl ich noch zu Hause bin, in meinen eigenen vier Wänden, bin ich längst unterwegs. Die Reise hat bereits begonnen. Vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben bekomme ich eine wirkliche Ahnung, was mit dem Spruch gemeint sein könnte: „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Die Zeit für meine Idee scheint reif. Wer könnte mich von diesem Weg noch abbringen?
Auszug aus dem zehnten Kapitel
Italien ist Geschichte. Denn mein Herz hat still und leise eine neue Tür aufgemacht. Einen Türspalt zu einer alten Sehnsucht, die ich fast vergessen hatte: ein Leben in Portugal. Dieses kleine Land am westlichen Zipfel Europas war das erste Land, in das ich mir vorstellen konnte auszuwandern. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Es ist bis heute auch das einzige Land geblieben. Und ich wusste schon damals, in welcher Stadt ich am liebsten wohnen wollte: Lissabon.
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Nächste Woche geht's weiter!