Corona und die aktuellen Regelungen machen mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Aufgrund steigender Inzidenzen bleiben Schulen vorerst geschlossen, und so sind auch alle Kurse an der Volkshochschule bis zum Ende des Monats ausgesetzt.
Im Stillen hoffe ich, dass sich die Lage innerhalb der nächsten vier Wochen bessert. Dann hätte ich immer noch knapp drei Monate Zeit Portugiesisch zu lernen. Doch auch diese Hoffnung zerschlägt sich zwei Wochen später. Die Regeln bleiben wie sie sind und die Schulen damit zu.
Die Volkshochschule informiert mich per Mail, dass in diesem Semester kein Sprachkurs mehr stattfinden wird. Gleichzeitig bieten sie mir höflich an, mich schon jetzt für den nächsten Sprachkurs anzumelden, der im kommenden Frühjahr geplant ist. Schöne Idee, allerdings werde ich dann sowieso mitten unter Portugiesisch-Muttersprachlern sein. Es bliebe für mich nur noch abzuwarten, ob ich sie verstehe, beziehungsweise sie mich.
Was mache ich nur? Ich habe genau neunzig Minuten den Portugiesisch-Kurs absolviert. Ob das reicht, ein paar Monate in dieser Sprache zu überleben? Immerhin kann ich mich vorstellen, in Kurzfassung, also sagen, wie ich heiße, wie alt ich bin, wo ich herkomme. Ich kenne die Artikel und die Worte für „leben“ und „lieben“. Ich weiß sogar, was Friseur heißt: cabeleireiro. Weil das ein so schön kompliziert auszusprechendes Wort ist, haben wir es beispielhaft gleich in der ersten Stunde gelernt, um es nie wieder zu vergessen. Es wäre durchaus hilfreich, weil die Friseurgeschäfte in Deutschland derzeit ebenfalls geschlossen bleiben müssen auf unbestimmte Zeit. Ein schicker Haarschnitt nach der Einreise in Portugal wäre womöglich dringend angebracht.
Haarschnitt hin oder her, wenn ich es genau betrachte, ist mein Überleben im fremden Land mit meinem derzeitigen Vokabular eher schlecht als recht gesichert. Es wird höchste Zeit, mich nach alternativen Lernformen umzuschauen. Das Netz spuckt mir unzählige Sprach-Apps, Portugiesisch-Lernseiten und Youtube-Tutorials aus.
Allerdings ist Portugiesisch nicht gleich Portugiesisch. Soviel weiß ich schon aus meiner ersten Unterrichtseinheit. Denn es gibt eine europäischee und eine brasilianische Sprachvariante. Insbesondere die Aussprache unterscheidet sich wesentlich voneinander. Trotzdem eröffnen sich immer noch unzählige Angebote, mir beim „Olá Portugal“ helfen zu lassen. Du hast alle Möglichkeiten, also nutze sie, flüstert der Verstand. Aber wie mache ich das? frage ich zurück, und meine Stimme nimmt trotz des Flüsterns einen leicht hysterischen Unterton an. Ich fühle mich vom Zuviel an Alternativen schlichtweg überfordert. Nicht ohne Grund hatte ich mich für einen Volkshochschulkurs eingeschrieben. Feste Zeiten, klare Lehrbuch-Empfehlung und eine Gruppe, die mir in puncto Hausaufgaben genug mentalen Druck machen würde. Pustekuchen. Nun muss ich nicht nur selbst fündig werden, sondern ich muss allein lernen und mich auch noch selbst dazu motivieren. Noch ist die Zeit auf meiner Seite. Ich habe vier Monate bis zum Start. Ich schwanke zwischen Ein Glück, noch so viel Zeit und Oh Gott, wie soll ich in nur sechzehn Wochen ganz allein eine Sprache lernen?
Um nicht allzu viel Zeit mit der Suche zu vergeuden, entscheide ich mich fürs Erste für die Lern-App Drops. Sie ist in der Basisvariante kostenlos. Fünf Minuten täglich Vokabeln lernen, klingt machbar. Zudem arbeitet die App mit Bildern, was mir als visuell veranlagter Typ entgegenkommt. Allerdings hilft die App grundsätzlich nur, wenn man sie auch öffnet, am besten täglich, und sich die schönen Bilder samt Vokabeln anschaut und wiederholt. Ich hingegen pflege meine Tendenz zum Aufschieben. Ist das nicht verrückt? Ich weiß, dass ich die Sprache in ziemlich genau vier Monaten brauchen werde. Dass sie mir das Leben erleichtern würde. Und doch finde ich Gründe, das Lernen immer wieder auf den nächsten Tag zu verschieben.
Vermutlich ist mein schlechtes Gewissen der Grund, dass ich ein paar Wochen später, um genauer zu sein am Neujahrsmorgen, die sogenannte „Drops-Challenge“ annehme. Es könnte am Restalkohol liegen, dass mir gar nicht so richtig klar ist, was ich da tue: Ich willige ein, ab sofort neunzig Tage am Stück Portugiesisch zu lernen. Ich wiederhole: am Stück, heißt jeden Tag mindestens fünf Minuten. Die Challenge endet am 31. März. Das passt zeitlich erst mal ziemlich gut. Trotzdem hätte ich vielleicht vorher mal kalt duschen gehen sollen und danach überlegen, ob ich das auch wirklich will. Als ich den „Ich bin dabei!“ Button geklickt habe, legt sich kurz ein Granitblock auf meine Brust. Weg ist die gute Laune, dabei ist das neue Jahr erst wenige Stunden alt. Toll, jetzt habe ich also noch mehr Ballast im Rucksack der Vorbereitungen. Wo war sie hin, die Freude als Kompass?
Rückblickend weiß ich: Manchmal trifft man auch, oder gerade mit Restalkohol gute Entscheidungen! Denn ein bisschen Druck kann mir an dieser Stelle nicht schaden. Zumal mir die App nicht böse ist, wenn ich mal einen Tag aussetze, Challenge hin oder her. Drops lobt mich stattdessen, wenn ich am nächsten Tag wieder da bin. Wie nett!
Auf meinem Weg zur Portugiesisch-Muttersprachlerin bekomme ich eines Tages eine weitere, ganz unerwartete Unterstützung: Mirjam, die Mutter eines guten Freundes meines Sohnes, hat einige Jahre in Portugal gelebt und spricht fließend portugiesisch. Sie bietet an, mir zu helfen. Es ist ein Strohhalm, nach dem ich sehr gern greife. Und so verabreden wir uns, und sie hat bei Kaffee und Kuchen wertvolle Hinweise für Wörter, Sätze, Aussprache und ein paar Tipps für die Reise noch obendrauf. Sie motiviert mich mit ihrer geduldigen, freudvollen Art immer wieder. Zu Hause an meinen Türen, Wänden, an Spiegeln und Schränken verteile ich bunte Klebezettel mit Wörtern, Redewendungen und Fragen, um auf diese Weise die Sprache sozusagen im Vorbeigehen zu lernen. Ein Tipp, den ich in einem Youtube-Tutorial finde.
Je näher die Abreise rückt, desto schräger werden meine Suchbegriffe im Netz: „Sprache lernen einfach“, „Sprache lernen über Nacht“, „Sensationelle Sprachlernmethoden“. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was ich verdränge: Eine Sprache lernen hat eben immer noch mit Lernen zu tun.
Letztlich befinden sich wenige Tage vor meiner Abreise zirka zweihundert Wörter in meinem Wortschatz; dank Mirjam kann ich ein paar einfache Sätze und Fragen formulieren und die aus meiner Sicht zehn wichtigsten Verben konjugieren. Keine Ahnung, wie weit ich damit komme. Wenn es gut läuft, bis in mein erstes Domizil. Das wäre immerhin schon mal kein schlechter Anfang.
Auszug aus dem 16. Kapitel
Die Jungs haben gekocht. Zur Feier des Tages. Wir sitzen an meinem großen Esstisch, und am liebsten würde ich einen Schnaps mit ihnen trinken, ebenfalls zur Feier des Tages. So richtig können wir es alle noch nicht fassen, und womöglich kriegen wir deshalb und dieses Mal alle das Grinsen nicht aus dem Gesicht: Denn nun kommt auch die Jungs-WG auf den Weg. Heute unterschreiben wir die Untermietverträge. Und damit löst sich ein Problem geschmeidig und zur Freude aller in Luft auf: Nämlich die Frage, was mit meiner Wohnung in der Zeit meiner Abwesenheit passiert, und vor allem, wie ich meine Mietkosten gedeckelt bekomme.
Ein paar Wochen zuvor kommt mein Sohn mit der Idee um die Ecke. Wir stehen in unserer Küche, ich bin gerade dabei, mir einen Kaffee zu machen, als er leichthin meint: „Könntest du dir eigentlich vorstellen, dass ein Freund mit einzieht, während du weg bist?“ Noch bevor ich antworten kann, setzt er vorsichtig nach: „Oder zwei?“
Neugierig, wie es weitergeht?
Nächsten Freitag lest Ihr das vollständige Kapitel ;-)