Eine Wohnung mit Garantie auf Gemütlichkeit. Familie und Freunde in Rufweite, die mir Geborgenheit schenken und mich auffangen, wenn es mir mal nicht gut geht, ohne dass es dafür viele Worte braucht. Was ist falsch daran?
Nichts. Eigentlich gar nichts.
Es beginnt mit einem Gefühl innerer Unruhe. Vor über einem Jahr klopft es zum ersten Mal bei mir an: Ein Gefühl, das mir zuraunt, hier kennst du alles. Ein Gefühl, das mich in stillen Momenten fragt: „Wann gab es in deinem Leben zuletzt etwas wirklich Neues? Jenseits deiner Komfortzone. Liebst du dieses Leben, so wie es ist? Eingerichtet in Routine und Ritualen? Vertraut und schön, ja. Lebendig? Weniger.“
Das Gefühl kämpft nicht gegen meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Sicherheit. Dafür verströmt es sanft aber stetig eine Sehnsucht „...ich muss mal weg, kenn' jede Taube hier beim Namen...“. Und plötzlich kann ich keiner Taube mehr hinterherschauen, ohne an diese Songzeile zu denken, ein sehnsuchtsvolles Ziehen in meiner Brust.
"Ich muss mal weg, kenn jede Taube hier beim Namen..."
Das Gefühl macht es mir schwer, es nicht zu mögen. Wäre es nervig, könnte ich ihm zuraunen: Mach dich davon. Ich brauche dich nicht. Aber so? Es ist gut zu mir. Und nun? Einfach weitermachen? In der Hoffnung, dass es vergeht? Die Sehnsucht sich abnutzt? Auflöst? Will ich das wirklich?
Das Gefühl bleibt. Es sorgt dafür, dass ich beginne, mit dem Gedanken zu spielen, mich aufzumachen, mal für eine Zeit woanders hinzugehen, andere Sprache, andere Menschen, andere Bilder.
Der Impuls kommt nicht von ungefähr. Mein Sohn plant gerade sein „Work and Travel“ in Australien. Er am anderen Ende der Welt. Und ich? Kann mir plötzlich vorstellen, es ihm nachzumachen. Nicht Australien, auch nicht gleich ein Jahr. Aber zumindest für eine gewisse Zeit im Ausland zu leben. Vielleicht will ich mir und möglicherweise auch ihm zeigen, dass ich ebenfalls einen neuen Plan für mein Leben habe mit einem nun erwachsenen Sohn. Dass ich weiß, was ich jetzt will! Immerhin scheint er es doch auch zu wissen. Ich sehne mich danach, mal wieder etwas nur für mich zu tun. Nicht einfach weitermachen wie bisher. Meine freiberufliche Arbeit als Autorin scheint mir dafür wie geschaffen. Mir gefällt die Idee, in einem der Cafés dieser Welt zu sitzen und zu schreiben. Mein Autorenleben zu pflegen, weltgewandt den Tag zu genießen.
Eine Zeitlang bleibt der Gedanke an meiner Seite. Ich bin abgelenkt vom bevorstehenden Abschiedsschmerz. Denn mein Verstand und vor allem mein Herz weigern sich, mir Bilder zu zeigen, wie ich mich fühlen würde, wenn mein Sohn erst einmal in den Flieger gestiegen war. Irgendwie unvorstellbar. Also beruhige ich mich mit der Idee, auch einen Plan zu haben. Es hilft. Auch wenn zunächst nichts konkret wird.
Dann kommt der Tag des Abschieds und ja, er tut weh. An jenem frühlingshaften Sonntagabend schließen sich die Glastüren des Abflugterminals hinter meinem Großen unerbittlich. Einen Moment sehe ich ihn noch am Abfertigungsschalter stehen. Ich versuche angestrengt, mir die Szenerie einzuprägen, wohl wissend, dass ich ihn ein Jahr nicht sehen würde. Wissend ja, aber ohne jegliches Gefühl dazu. Wie soll ich auch etwas fühlen, wenn ich keinerlei Erfahrung damit habe? Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt nie länger als drei Wochen voneinander getrennt gewesen.
Eine Stunde später steigt der Flieger mit meinem Sohn in Sitzreihe einundzwanzig in den sternenklaren Himmel über Berlin.
Ich hingegen weiß während der gesamten Rückfahrt nicht, was ich denken oder fühlen soll. Ich bin wie betäubt. Erst als zu Hause die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt, kommen die Tränen. Ich setze mich in den Sessel und lasse sie fließen. Ich habe keine Ahnung, wie lange es brauchen würde. Eine Stunde? Eine Woche?
Ich weiß nur, ich will Zeit haben. Zeit haben für mich und Zeit haben für meinen Schmerz. Nicht, um in ihm zu baden, sondern um mich dieser für mich vollkommen neuen Situation zu widmen. Zu spüren, wie es mir geht zwischen Tränen um das Vergangene und sich Mut machen für das Kommende. Beruhigenderweise liegen zwei Wochen Urlaub vor mir. Kein Zusammenreißen-Müssen, kein Augen-zu-und-durch, kein so-tun-als-ob. Vor mir selbst nicht, vor niemandem.
Auszeit am Meer...
Das ist tatsächlich neu: Dass ich mir Zeit nehme, um mich auf eine so grundlegend andere Lage in meinem Leben wirklich einzulassen. Mir in Ruhe darüber klar zu werden, dass sich etwas tiefgreifend ändert, ohne zu wissen, was es mit mir machen würde.
Vor fünfzehn Jahren war ich über den Tod meiner Mutter hinweggegangen mit dem gebetsmühlenartigen Satz „Es muss ja irgendwie weitergehen“. Mit dieser Redewendung schlug ich jedes aufkommende Gefühl der Trauer nieder wie ein Buschfeuer, das außer Kontrolle zu geraten drohte. Fünf Jahre später, beim Tod meines Vaters, reagierte ich erneut auf diese Weise. Es war das einzige Muster, das ich kannte, um mit dieser Wand aus Schmerz umzugehen. Weitermachen. Immer weitermachen. Nur nicht fühlen. Die nackte Angst saß mir im Nacken, ich könnte in diesem Gefühl komplett versinken, wenn ich ihm auch nur wenige Millimeter Raum geben würde. Ich hatte nicht den Mut, mich darauf einzulassen. Und ich wollte auch andere nicht belasten mit meinem Schmerz; mich ihnen nicht zumuten mit meiner emotionalen Achterbahnfahrt. Auch wenn einige durchaus bereit dafür gewesen wären, ich war es nicht.
Das ist jetzt anders. Jetzt kann und will ich meinen Gefühlen Raum geben. Reden, lachen, weinen, allein sein. Das, was gerade dran sein will. Es ist das größte Geschenk, das ich mir machen kann. Alle, die in diesen Tagen an meiner Seite sind, gehen so liebevoll, mitfühlend und offen damit um, dass allein das schon ein Grund zum Heulen ist. Ich bin wie befreit von meinem Kampf aus Erwartungen an mich. Spüre, dass das Neue seine schönen Seiten haben würde. Dass mein Sohn und ich vorher schon gelernt haben, voneinander loszulassen für das jeweils eigene Leben. Und doch verbunden bleiben im Herzen, ganz gleich, wo der andere gerade ist.
Stück für Stück tauche ich ein in mein neues Leben.
Der Schmerz legt sich nieder wie ein müdes Tier. Weicht einem behutsamen Vertrauen, dass alles gut ist – auf diese andere, noch ungewohnte Weise. Ich kann gut für mich allein sein, ohne mich einsam zu fühlen. Zur Ruhe kommen, ohne unruhig zu werden. Bei mir zu Hause, in meinen vier Wänden. Ich bin nicht auf der Flucht vor mir selbst. Ich mag mich und die Zeit mit mir. Erfreut stelle ich fest, dass sich mein neues Leben gut anfühlt. Und dass ich dafür nicht einmal über Grenzen gehen muss. Der Abschiedsschmerz hatte seinen gebührenden Platz bekommen, jetzt konnte das Leben weitergehen. Ich brauche keine Pläne mehr fürs Ausland. Ich habe mir bewiesen, dass ich klarkomme. Mein Auftrag scheint erfüllt.
Also lasse ich die Idee ziehen. Sie verschwindet ohne Widerstand. Ich dachte, auf Nimmerwiedersehen. So kann man sich täuschen. Jetzt ahne ich, dass sie sich nur zurückgezogen hat, um zu einer besseren Zeit erneut aufzutauchen. Unüberhörbar, unausweichlich. Dieses Mal jedoch nicht, damit ich mir oder meinem Sohn etwas beweise.
Doch genau damit bringt sie mich zur entscheidenden Frage: Welche Kraft hat dieser Impuls ganz allein aus sich heraus? Und wer könnte sich ihm in den Weg stellen? Vor allem aber: Wieviel Zeit gibt er mir? Welche Geschichte will ich mir später einmal erzählen, wenn ich alt bin? Eine Geschichte über eine Idee, die nichts weiter blieb als genau das?
Auszug aus dem fünften Kapitel
Lange war die Zeit auf meiner Seite. Gefühlt mein ganzes bisheriges Leben. Es schien, als hätte ich unendlich viel davon. Für alles würde irgendwann noch eine Gelegenheit kommen. Es blieb vage und verheißungsvoll gleichermaßen. Ich war mir sicher: Ich konnte, wenn es so weit war. Wenn ich gefestigt genug sein würde im Job; wenn der Sohn aus dem Gröbsten raus wäre, meine Eltern versorgt. Immer neue Gründe kamen dazu. Ich war beruhigt über die Fülle an Möglichkeiten, die morgen auch noch existieren würde.
Derweil verlief mein Leben in seinen gewohnten Bahnen. Hätte ich einmal länger darüber nachgedacht, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass dieses verheißungsvolle „Irgendwann“ am Ende nur ein anderes Wort war für nie.
Doch plötzlich sieht die Lage anders aus. Vielleicht, weil die Jahre ins Land gehen. Und ich mir nicht irgendwann, sondern jetzt die Frage stellen muss: Bin ich zufrieden, da, wo ich bin, wie ich bin? Steigt ein kraftvolles „Ja“ in mir auf? Oder mehr so ein „Naja“? Und genügt mir das? Und wenn es das nicht tut, was dann? Wie lange habe ich Zeit für Veränderung, wenn die Antwort ein Nein ist oder mir ein Naja nicht genügen will?
...
Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel.