Ich schreie, so laut ich kann: „Ist da jemand? Kann mich jemand hören?“ Keine Antwort. Nur das Tosen der Wellen. Dem Meer scheint es egal zu sein, was ich hier tue. Seine stoische Art vermittelt mir: Wenn du schreien willst, dann schreie. Aber mach nicht so viel Aufhebens darum.
Ich muss lachen, breite meine Arme aus und schreie gleich noch einmal: „Ich bin in Portugal und ich liiiiiebe es!“ Wieder kein Kommentar, von niemandem. Ich wüsste auch nicht, wer mir an diesem einsamen Strand antworten oder gar widersprechen sollte. Meine Stimmbänder hingegen sind überrascht. Wir hatten das lange nicht mehr, so laut, so kraftvoll austoben.
Ich bin unterwegs im Naturschutzgebiet von Praia de Faro. Den Tipp zu dieser Tour habe ich von Freddy bekommen. Wie sehr dieser Weg auch im übertragenen Sinne für mein Unterwegssein, meine Auszeit, steht, wird mir erst klar, als ich schon ein ganzes Stück der Strecke zurückgelegt habe. Der Pfad schlängelt sich durch flaches Land, immer an der Lagune von Praia de Faro entlang. Reiher und Störche leben in dieser Idylle, im Wasser tummeln sich zahlreiche Fische. Der Wind weht sanft, die Sonne steht hoch. Zwei Tage nach meiner Ankunft bin ich immer noch überrascht, wie kraftvoll sie hier schon strahlt.
Freddy hatte von einer Brücke gesprochen, die am Ende des Weges durchs Naturschutzgebiet über die Lagune führt. Von dort aus, so meinte er, ließe es sich direkt am Meer zurück zu unserem Quartier laufen. Ich suche mit den Augen den Horizont ab, um die Querung zu entdecken, doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann nichts finden. Möglicherweise ist sie doch weiter entfernt als gedacht?
Ich drehe mich um. Die flachen Häuser von Praia de Faro sind ebenfalls nur noch ein Streifen am Horizont. Umkehren ist also keine wirkliche Alternative. Kurz überschlage ich, wie lange es dauert, bis es dunkel wird. Noch gut zwei Stunden, das sollte zu schaffen sein. Mein Verstand schüttelt still den Kopf. Er hätte es gern ein bisschen konkreter: Wo ist die Brücke, wie lange braucht man bis dahin und für den Weg zurück? Auf dieser Basis würde er mir ungefragt, aber mühelos, mein persönliches Risiko errechnen. Ich kann ihm mit keiner dieser Angaben dienen.
Um noch einmal die Dringlichkeit seiner Bemühungen zu unterstreichen, schickt er mir Erinnerungsfetzen an Geschichten über vermisste Touristen, von denen ich in der Vergangenheit in den Nachrichten gehört hatte. Auch sie hatten sich in Unkenntnis der Gegend und teils hanebüchener Naivität zu weit in unbekanntes Gelände hinausgewagt. Man fand sie, wenn überhaupt, erst Wochen oder gar Monate später, nur selten noch lebend. Es würde nicht lange dauern, und mein Verstand hätte auch die Schlagzeile für meine Geschichte getextet: „Deutsche Touristin spurlos verschwunden“ oder „Verschollen nach nur achtundvierzig Stunden“.
Okay, da muss ich ihm sogar Recht geben, die Geschichte wäre schon etwas peinlich. Noch keine zwei Tage im Land und schon verlaufen. Es weiß niemand, dass ich hier unterwegs bin. Niemand, außer Freddy. Aber ob der sich nach seinem Bierkonsum des gestrigen Abends noch erinnern würde, dass er mir überhaupt von dieser Tour erzählt hatte, ist mehr als fraglich.
Also doch umkehren? Ich atme tief durch und frage mich, was eigentlich im allerschlimmsten Fall passieren kann. Verlaufen kommt schon mal nicht infrage, denn es gibt nur diesen einen Weg. Aber die Brücke könnte sich als viel weiter entfernt entpuppen, Freddys lockere Schätzung hin oder her. Vielleicht hatte er sich vertan? Oder ich mich bei seinem vernuschelten Englisch verhört? Am Ende waren es nicht sechs Kilometer, sondern sechzehn? Das würde bedeuten, den Rückweg definitiv im Dunkeln zurücklegen zu müssen. Nicht schön, aber machbar. Obwohl mir bei dem Gedanken an den dunklen Strand und den kraftvoll tosenden Atlantik doch ein wenig mulmig zumute wird.
Dennoch laufe ich weiter. Eine gute halbe Stunde später taucht sie in der Ferne auf: eine dunkelbraune Holzbrücke. Auf dünnen Stelzen schwingt sie sich über die Lagune und trifft auf der anderen Seite direkt auf die Dünen. Als ich in ihrer Mitte stehen, spüre ich das Schwingen unter meinen Füßen. Am Strand angekommen, ziehe ich die Schuhe aus. Meine Füße sinken im kühlen Sand ein, die kleinen Muscheln zwicken an meinen Fußsohlen. Ich schaue auf den Punkt am Horizont, der die Häuser von Praia de Faro markiert, und laufe los.
Und dann geht mir ein Licht auf: Dieser Weg heute fühlt sich ein bisschen an wie meine Reise. Ich kenne den Weg nicht. Ich ahne nur, wo es langgeht. Ich weiß nicht, was mich unterwegs erwartet. Doch wenn ich einfach immer weiterlaufe, wird sich der Weg unter meinen Füßen bahnen, mal mehr, mal weniger leicht. Wenn ich den Blick hebe, werde ich einiges entdecken können, manchmal einfach nur die Schönheit des Moments. Vielleicht werde ich manches Mal verstehen, was mir der Weg gerade zeigen will, so wie heute: Herausforderungen ebenso wie Geschenke, kleine und große.
Als mir all das klar wird, schaue ich mich um. Hinter mir ist niemand, vor mir ist niemand. Und plötzlich ist er da, dieser Impuls: Ich drehe mich um zum Meer, breite die Arme aus und schreie. Aus voller Kehle.
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Auszug aus dem 31. Kapitel
Als ich die Augen öffne, schießt mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, und mit einem Schlag bin ich hellwach: Ich habe nicht auf mein Gepäck aufgepasst! Hektisch schaue ich mich um, kann aber meine Tasche nirgendwo entdecken. Weg. Und damit Handy, Geld und ec-Karte. Was für ein beschissener Anfängerfehler, hämmert es in meinem Kopf.
Erst den Bruchteil einer Sekunde später fällt es mir ein: Ich hatte gar keine Tasche dabei. Zum Strand hatte ich nur Jacke, Schlüssel und ein Handtuch mitgenommen. All das ist noch da. Warum will sich dann keine Erleichterung einstellen?
...
Nächsten Freitag lest Ihr das komplette Kapitel!